Die UN-BRK: Eine Konvention mit Siegerpotential in jedem Sinne?

Seit bald sechs Jahren hat die Schweiz die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Hat sich dadurch für Menschen mit Behinderungen wirklich etwas verändert? Und wie sieht es in den Institutionen aus?

Ein persönlicher Blick auf das, was mancherorts in der Zwischenzeit passiert ist, mit einem kurzen Spot in die Entstehungsgeschichte, einem Zwischenhalt in der Gegenwart und ein paar Gedanken zu alledem, ist Inhalt von diesem Schaufenster. Dafür habe ich in den letzten vier Monaten immer wieder mit unterschiedlichen Personen das Gespräch gesucht und ihnen erzählt, dass ich im März diesen Artikel schreibe. Alle waren bereit, ihre Erfahrungen anonymisiert mit mir zu teilen.

Gehen wir also zurück zum Anfang der UN-BRK...

Mit der Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die UN-Generalversammlung in New York (folgend UN-BRK) im Dezember 2006, begann vielerorts eine neue Zeitrechnung.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinten Nationen (folgend UNO) wurden die Menschenrechte für Menschen mit Behinderung verbindlich festgehalten! Aber nicht nur das war passiert; die UN-BRK entwickelte sich zum «erfolgreichsten Produkt» der UNO und erwies sich gewissermassen als «Klassenprimus» aller Konventionen. Initiantin der UN-BRK war übrigens Mexiko!

Sie war die Erste im neuen Jahrtausend, sie war auch die erfolgreichste: Bereits am ersten Tag der Auslegung zur Signatur wurde sie von über 80 Mitgliedstatten unterzeichnet, (die Schweiz war nicht dabei) und wurde in der Folge von fast allen Mitgliedstaaten der UNO ratifiziert. Zudem: Sie klärte das Verhältnis Menschenrecht und Menschen mit Behinderung endgültig und setzte quasi «alle Menschen an denselben Tisch».

Die Konvention schaffte keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderungen, sondern übernahm die Grundrechte der verschiedenen Menschenrechtsinstrumente und übertrug diese auf die besondere Situation von Menschen mit Behinderung, indem sie ihre Umsetzung spezifiziert und konkretisiert. Sie fordert und beschreibt teilweise sogar die Ermöglichungsbedingungen, die ein Staat zu leisten hat (hätte), damit alle Menschen von den allgemein gültigen Menschenrechten «betroffen sein können». Das Menschenbild der Konvention stellt die Autonomie in den Vordergrund. Zum einen als Ziel von Selbstbestimmung und Freiheit, eigene Entscheide treffen zu können, und zum anderen als Wesensmerkmal des Menschen (vgl. Wohlgensinger S.17ff).

Direkte Wirkung der UN-BRK?

Ich habe versucht, der Frage nach der «direkten Wirkung» der UN-BRK auf zwei verschiedenen Wegen nachzugehen. Zum einen habe ich bei Kolleginnen und Kollegen in der «institutionellen Praxis» nachgefragt, zum anderen bei Freundinnen, Freunden und Bekannten, die von einer Behinderung betroffen sind. Beide Gruppen überkreuzen sich nicht.

Rückmeldungen aus der Praxis

Die Gruppe der Kolleginnen und Kollegen beschreibt die Wirkung der UN BRK als primär «kontrollartig-bereichernd». Durch die umfassenden Themenbereiche, die in der UN-BRK aufgelistet werden, könne man alle relevanten Themen in den eigenen Dokumentationen abdecken. Teilweise hat die UN-BRK Einlass in Leitbilder, Konzepte und andere Normpapiere gefunden, andererseits wird sie hin und wieder beigezogen um zu schauen, ob man «alles richtig» macht. An einigen Orten hat man die Mitwirkung und Partizipation der KlientInnen auch ausserhalb von «Bewohnenden- oder KlientInnenräten» ausgeweitet, an anderen Orten hat man die Themen und Bereiche, die man intensiver partizipativ oder wählbar machte, weiter ausgebaut. Drei Kolleginnen und Kollegen berichteten von Informationsveranstaltungen, die sie für die Klientinnen und Klienten durchgeführt hatten. Viel Gewicht schien die UN-BRK im Alltag aber nirgends zu haben, was möglicherweise auch am nächsten Umstand lag.

Gute Grundlagen bereits mit dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht

Denn was in allen Gesprächen erwähnt wurde, war der Eindruck, dass das Sozialwesen in der Schweiz, insbesondere mit dem 2013 überarbeiteten Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, über viele gute Grundlagen verfügt, um die UN-BRK umzusetzen, und es lange vorher bereits getan hat respektive immer noch tut. Auch andere Gesetzesgrundlagen wurden erwähnt, wo die UN-BRK nur eine «Verdoppelung» der Inhalte bedeutet. Man berichtete mir auch, dass das Thema UN-BRK selten bis gar nicht von den gesetzlichen Vertretern oder Eltern angesprochen würde, ähnlich wenig wie von den Klientinnen und Klienten, die in den entsprechenden Institutionen leben.

Alltagsthemen beschäftigen

Vielmehr sind es Alltagsthemen, die sie beschäftigen und bei denen oft im «Nachgang» die Nähe zur UN-BRK wahrgenommen wird. Dann sei das Thema aber oft schon «fertig» bearbeitet und man erkenne vor allem, woran die effektive Umsetzung der UN-BRK noch «scheitere» oder wo die besonderen Herausforderungen lägen.

Dabei kamen vor allem zwei Themen zur Sprache: Zum ersten die Situation von Menschen mit eher schweren kognitiven Beeinträchtigungen, deren Wahlfreiheit und Themenbereiche manchmal von Beginn weg schon eingeschränkt sind. Sei es, damit keine Überforderungssituation entsteht, oder auch, damit sie sich und andere nicht gefährden. Also bei Menschen, bei denen die Vermittlung von abstrakten Themen eine besondere Herausforderung darstellt und vieles gar nicht so einfach umsetzbar ist, wie es formuliert wurde. Das zweite, bemerkenswert häufig erwähnte, Thema war das der ökonomischen Rahmenbedingungen der betroffenen Personen selbst, der Institution und / oder der Gesellschaft. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Grad des Unterstützungsbedarfs und der Vielfalt des Wählbaren, respektive den Möglichkeiten, Teil der Gesellschaft zu sein und daran partizipieren zu können. Ein weiterer direkter Zusammenhang, nämlich der von Armut und Behinderung, zeigte sich ebenso deutlich.

Rückmeldungen von Menschen mit Behinderung

Bei der Gruppe der Menschen die von einer Behinderung betroffen sind, gab es zwei sich deutlich abgrenzbare Ergebnisse:

Erstens: Den Personen, die von keiner geistigen Behinderung betroffen sind, war die UN-BRK zwar bekannt. Sie weckte aber kaum Interesse, respektive fast ausschliesslich dann, wenn es darum ging, eigene Ansprüche rechtlich durchzusetzen. Man hatte sich nicht oder nur oberflächlich damit auseinandergesetzt. Der globale Anspruch schien im Alltag wenig griffig. Man berief sich lieber auf bereits bekannte Systeme oder wies auf Selbsthilfegruppen, Interessensvereinigungen oder die Invalidenversicherung resp. Inclusion Handicap hin. Zwar fanden es die betroffenen Menschen wichtig, dass es «so etwas» gibt und auch der Beitritt der Schweiz war unbestritten richtig, aber sich selbst und die eigenen Rechte als «Primat» durch diese Konvention vertreten zu lassen, schien so gar nicht «praktisch» oder persönlich.

Zweitens: Bei den Personen, die von einer geistigen Behinderung betroffen sind, schien die UN-BRK unbekannt, bis der Satz «d’Schwiiz muess luege, dass…» durch einen der Gesprächspartner gefallen war. Daraufhin begannen einige von den Kursen oder Gesprächen zu erzählen, an denen sie teilgenommen hatten und die im Alltag immer mal wieder Anlass für Verhandlungen gaben. Viel Gewicht wurde auf «die Schweiz» als Auftraggeberin gelegt, die dafür sorgte, dass es ihnen als Menschen in der Situation gut gehe. Für die effektive Umsetzung wurden Gruppenleitende und Bezugspersonen als verantwortlich genannt. Und dass sie für «die Schweiz» als Personen auf einmal spürbar wichtig waren, schien eine Erfahrung zu sein, die sie vorher nicht gemacht hatten.

Auf meine Frage, ob sich denn effektiv etwas verändert habe, erhielt ich ganz unterschiedliche Antworten. Eine war «Nei, ich dörf immer nonig Auto fahre», eine andere war «Ja, ich gange jetzt meh go poschte und es isch wichtig, was ich will». Inwieweit diese beiden Antworten sich effektiv oder kausal mit der UN-BRK verbinden lassen, sei dahingestellt. Wichtig erscheint mir, dass der/die Betroffene sich als (selbst-)wirksam oder «veränderungspotent» wahrnimmt.

Mein Fazit: Ich glaube nicht, dass es als betroffene Person primär darum geht, die UN-BRK und ihre Forderungen an den Staat gut zu kennen. Ich bin der Meinung, dass es vielmehr darum geht zu wissen, dass der Staat einem als Person mit allen Rechten, Pflichten und Bedürfnissen wahrgenommen hat und dafür sorgen muss, dass diese Wahrnehmung sich im Alltag überall und für alle erkennen lässt.

Und für uns professionell Tätige ist die UN-BRK Chance und Aufforderung, unsere Arbeit im Hinblick auf Unternehmensstrategien, normative Grundlagen und inhaltliche Ausrichtung immer wieder gründlich zu reflektieren.

«Siegerpotential»?

Wie ist es nun also mit dem «Siegerblick» der UN-BRK: Hat sie ihn wirklich verdient?

Ich glaube ja. Obwohl die «Erhebung» in meinem Freundes- und Arbeitskreis diesen Begriff nicht verdient, zeigt sie doch ein «Produktbild» und einen Zustand, der vielversprechend ist und Mut macht. Aber: Es gilt den eingeschlagenen Weg jetzt konsequent weiter zu verfolgen.

Quellen

Wohlgensinger, Corinne 2014: Behinderung und Menschenrechte: Ein Verhältnis auf dem Prüfstand Budrich UniPress LTD / 978-3-86388-084-2

Felder, Franziska 2012: Inklusion und Gerechtigkeit Campus Verlag / 978-3-39591-3

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Kontakt
Rahel Huber, Bildungsbeauftragte Sozialpädagogik,
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